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Das Rafael Roth Learning Center im Jüdischen Museum Berlin: ein Rundgang am Computer

Das Rafael Roth Learning Center, das am Sonntag als Bestandteil des Jüdischen Museums Berlin eröffnet worden ist, ist mehr als eine virtuelle Ausstellung: Im Multimediazentrum wird deutsch-jüdische Geschichte anhand von Geschichten am Computer erlebbar gemacht.

Großartige Neuigkeiten erreichen 1665 die jüdischen Gemeinden in Europa: Ein Jude namens Schabtai Zwi hatte sich im fernen Osmanischen Reich zum Messias ausgerufen. Er versprach, die in aller Welt verstreuten Juden im Jahr 1666 zu erlösen. Seit der Vertreibung aus Palästina im Altertum wartetet das jüdische Volk sehnsüchtig auf diesen Moment. Klick.

Stefanie von Ow macht aus der Geschichte Geschichten. Digitale Erzählungen. So wie jene vom Juden Schabtai Zwi, der sich Mitte des 17. Jahrhunderts zum Messias erklärte. Historische Textdokumente und Abbildungen gibt es auch in Schulbüchern. Natürlich, aber dort bleiben sie auf dem Papier haften, sie erwachen nicht zum Leben. Stefanie von OW arrangiert die Texte und Bilder am Computer, lässt Quellen von Sprechern vorlesen oder kommentieren, lässt die wichtigen Elemente einer historischen Zeichnung beim Kontakt mit dem Mauszeiger automatisch heranzoomen. Sie bindet interaktive Landkarten und digitalisierte Musikstücke ein. Aus Schnipseln entsteht eine Geschichte, ein Erlebnis.

Schabtai Zwi wurde im Sommer des Jahres 1626 geboren. Mit 18 galt er bereits als Gelehrter und sah sich zu großen Aufgaben berufen. Weil er jedoch wiederholt Religionsgesetze übertrat, brachte er die Oberen seiner Gemeinde gegen sich auf. Um 1654 wurde er aus Smyrna verbannt und musste sich auf eine langjährige Wanderschaft begeben. Klick.

Stefanie von Ow, studierte Historikerin und gelernte Multimediadesignerin, ist Mitarbeiterin der Stuttgarter Pandora Neue Medien GmbH, die das Rafael Roth Learning Center im Jüdischen Museum Berlin aufgebaut hat - jenes Multimediazentrum, in dem die Themen der Ausstellungen des Museums mit Hilfe der neuen Medien fortgeführt, ergänzt, erweitert werden. Das Learning Center ist nach seinem Geldgeber, dem Bauunternehmer und Besitzer des Berliner Ku'damm-Karree, benannt. "Es ging uns darum, die Ausstellungen nicht nur eins zu eins abzubilden," sagt die Projektkoordinatorin Bettina Schoch, "sondern etwas Eigenes zu machen, die Möglichkeiten der Multimediatechnologien auszunutzen."

Im Jahre 1662 erreichte Schabtai Zwi Jerusalem, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Die Jüdische Gemeinde in der heiligen Stadt war arm und auf Spenden wohlhabender Juden aus der Diaspora angewiesen. Als der Sultan die Steuern für die Juden Jerusalems anhob, wurde Schabtai Zwi als Sendbote nach Kairo geschickt. Er beschaffte das nötige Geld und wurde in Jerusalem als Held gefeiert. Klick.

Das Angenehme an den Multimediaanwendungen ist, dass die Besucher von der Technik kaum etwas bemerken, Die insgesamt 16 Computerstationen - neun kleine für einzelne Besucher, sieben größere für Gruppen - bestehen nur aus einem Bildschirm und aus einer Maus. Sie sind von dem New Yorker Innenarchitekten Michael Rubin so konzipiert worden, dass die Besucher auch bei größerem Andrang in Ruhe im sogenannten Web of Information stöbern und über Ihre Entdeckungen sprechen können. Die Bedienung der Terminals ist einfach und eingängig (natürlich gibt es eine Hilfefunktion), sie erinnert an die eines Internetbrowsers. Das liegt daran, dass tatsächlich alle Anwendungen, unsichtbar für den Nutzer, tatsächlich im Microsoft Internet Explorer ablaufen.

INathan Aschkenasi wurde zum Propheten Schabtai Zwi. Er behauptete, ihn im Traum als Messias gesehen zu haben. Nachdem sich Schabtai im Mai 1665 zum Messias ausgerufen hatte, verkündete Nathan dies in Sendschreiben nach Europa und Afrika. Klick.

Die gesamte virtuelle Ausstellung im Learning Center basiert auf der Technologie des World Wide Web und auf Internetprotokollen - das ist technisch gesehen eine der interessantesten Neuerungen gegenüber anderen Multimediamuseen. So ist es auf einfache Weise möglich, viele verschiedene Medienelemente, die in einer Datenbank gespeichert werden, einzubinden: zum Beispiel Filmausschnitte, Videos, Bilder und Texte. Um die riesigen Datenmengen zu erfassen, verwalten und schließlich daraus eine Ausstellung zu gestalten, hat Pandora Neue Medien eigens die Software Object Research Assistant, kurz ORA, entwickelt. Außerdem wurde das gesamte Museumsgebäude mit einem Hochgeschwindigkeitsnetz, einem so genannten Gigabit-Ethernet, ausgestattet, damit die Daten schnell genug transportiert werden. "Die konsequente Nutzung dieser Technologien," sagt Michael Blumenthal, der Direktor des Jüdischen Museums, "setzen wir als erstes Museum Europas um."

Im Spätsommer 1665 traf Schabtai Zwi wieder in Smyrna ein. Er rief dort wahre Begeisterungsstürme hervor. Zweifler und Zauderer wagten es bald nicht mehr, sich gegen den Messias aufzulehnen. Im Dezember machte er sich mit einigen Gefolgsleuten in Richtung Konstantinopel auf, um den Sultan zu entthronen. Klick.

Aber wie gesagt: die Technik steht für die Besucher im Hintergrund. Es geht darum, Geschichten zu erzählen. Etwa die von Schabtai Zwi. Oder jene der jüdischen Salons in Berlin, in denen sich die Intellektuellen trafen. Jene von den Vorurteilen der Christen den Juden gegenüber. Es gibt nicht den einen, den geraden Weg durch die Multimediakompositionen im Rafael Roth Learning Center - jeder Besucher bestimmt per Mausklick, wie er die Geschichte erlebt, die Wissenschaftler des Jüdischen Museums Berlin zusammen mit Gestaltern wie Stephanie von Ow entwickelt haben. Die Besucher können an den Terminals nicht nur in den Geschichten stöbern, sondern zudem im virtuellen Katalog nach ausgewählten Exponaten aus den Ausstellungen suchen, die ebenfalls aufwendig multimedial aufbereitet wurden - etwa das Wormser Machsor (Gebetsbuch für Feiertage) oder die Eintrittskarten für die Neue Berliner Synagoge.

Die türkischen Behörden verhafteten die sabbatianische Delegation und brachten sie vor den Großwesir. Er ließ den Messias nicht hinrichten, sondern in Haft nehmen. Er wollte ihn nicht zum Märtyrer machen. Schnell verbreitetet sich das Gerücht, der Sultan sei nicht mächtig genug, um Schabtai Zwi zu bestrafen. Um diesen Gerüchten den Boden zu entziehen, fasste der Kronrat den folgenden Beschluss: Schabtai Zwi sollte sterben oder zum Islam übertreten. Er entschied sich, Moslem zu werden.

Die multimedialen Geschichten sind aber kein Selbstzweck, sie sind nicht nur zur Unterhaltung gedacht - vielmehr sollen sich die Besucher über ihre Erlebnisse im virtuellen Raum unterhalten. Sie sollen darüber nachdenken und diskutieren. "Wenn die Museumsbesucher - im Gespräch vertieft - das Learning Center verlassen", formulieren die Ausstellungsmacher ihre Zielvorstellung, "hat das Museum sein Ziel erreicht: die Auseinandersetzung mit der deutsch-jüdischen Geschichte."

von Tobias Köhler, Stuttgarter Zeitung, 13. September 2001

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